Ein Tag beim Nachhaltigkeitsdialog von Mercedes-Benz – und warum gerade dort deutlich wurde, wie viel moderne Führung mit Unschärfe zu tun hat.
Zwischen glänzenden Karosserien, neu gedachten Materialien und ehrgeizigen Nachhaltigkeitszielen ging es an diesem Tag nicht nur um die Zukunft der Mobilität – sondern auch um die Zukunft von Führung.

Beim diesjährigen Nachhaltigkeitsdialog von Mercedes-Benz trafen sich Führungskräfte aus dem Konzern mit VertreterInnen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft: von der Hans-Böckler-Stiftung über die Universität Konstanz bis hin zur Deutschen Bahn und Deutschen Bank.

Vortrag zum Thema „Ambiguitätstoleranz als Führungsstärke“

Nach einem Blick auf die neuesten Mercedes-Modelle, bei denen Nachhaltigkeit weit über den CO₂-Ausstoß hinausgeht, durfte ich mit meinem Vortrag „Ambiguitätstoleranz als Führungsstärke – Navigieren in der Unschärfe der Zukunft“ das Thema auf die menschliche Ebene bringen: Was bedeutet es für Führung, wenn Entscheidungen immer seltener auf klaren Daten, sondern auf widersprüchlichen Realitäten beruhen?
Ambiguität ist nicht gleich Ambiguität

Eine der überraschendsten Erkenntnisse des Tages war: Ambiguitätstoleranz hat viele Gesichter. Oft wird sie verstanden als die Fähigkeit, Unsicherheit auszuhalten – doch sie reicht weit darüber hinaus.
Es gibt Formen von Ambiguität, die man erst auf den zweiten Blick erkennt: Wirkungsunlogiken etwa, die im Führungsalltag allgegenwärtig sind.

Ein Beispiel aus dem Führungs- bzw. Betriebsalltag

Ein Beispiel, das viele im Raum schmunzeln ließ: Eine Führungskraft kämpft monatelang um ein Budget, um ihrem Team ein wichtiges Weiterbildungsseminar zu ermöglichen. Endlich ist es soweit – die Mitarbeitenden gehen hin, kommen zurück … und sind trotzdem enttäuscht.
Das Ziel war richtig, die Absicht gut – und doch bleibt das Gefühl, dass der Aufwand nicht die erhoffte Wirkung hatte.
Solche Widersprüche sind typisch für komplexe Systeme. Ambiguitätstoleranz bedeutet hier, trotzdem handlungsfähig zu bleiben, anstatt sich in der Sinnlosigkeit zu verlieren.

Die gute Nachricht: Ambiguitätstoleranz ist trainierbar

Was viele Teilnehmende überraschte: Ambiguitätstoleranz ist keine feste Charaktereigenschaft – sie ist entwickelbar. Sie entsteht dort, wo Selbstführung, Haltung und Resilienz zusammenkommen.
Das Training beginnt bei der eigenen Wahrnehmung:
• Wie reagiere ich auf Mehrdeutigkeit?
• Wo verspüre ich inneren Druck, vorschnell zu entscheiden?
• Wie halte ich Spannung aus, ohne in Aktivismus oder Rückzug zu verfallen?
Ambiguitätstoleranz lässt sich kultivieren – durch bewusste Reflexion, durch Perspektivwechsel und durch den Mut, Prozesse offen zu lassen. Wer diese Fähigkeit stärkt, erweitert seine Handlungsspielräume – gerade in einer Welt, die sich nicht mehr linear entwickelt.

Vom Einzelkämpfer zum Systems Leader

In meinem Vortrag stellt ich ein Modell vor, das Ambiguitätstoleranz auf eine neue Ebene hebt: das Konzept des Systems Leadership. Dieses stammt ursprünglich aus dem NGO-Kontext – etwa beim Umgang mit globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der Ebola-Pandemie. Dort, wo nicht eine einzige Organisation oder Führungskraft das Problem allein lösen kann, braucht es Menschen, die Netzwerke aufbauen, Dialoge gestalten und Macht teilen.
Dieses Denken ist nun auch in Unternehmen angekommen. Systems-Leader bewegen sich nicht nur in ihrer Organisation, sondern zwischen Systemen – sie verstehen Führung als kollektiven Prozess, bei dem Kooperation über Hierarchien hinweg entsteht.

Den Mindset eines Systems-Leaders entwickeln

Das Mindset solcher Führungskräfte ist klar umrissen:
• Offen bleiben: keine voreiligen Antworten, echtes Lernen zulassen.
• Neue Gespräche kuratieren: die richtigen Akteure zusammenbringen.
• Geteilte Macht fördern: Servant Leadership leben – Gleichgewicht zwischen Autorität und neuen Stimmen.
• Innovation durch Co-Creation: gemeinsame Lösungsentwicklung statt Silodenken.
• Leidenschaft zeigen: emotionale Verbundenheit mit Mission und Netzwerk.
• Verbindlichkeit leben: Durchhalten trotz Komplexität und langer Zeiträume.
• Eigene Fähigkeiten entwickeln: Reflexion und kontinuierliches Lernen.
Systems Leadership bedeutet: Führung ist kein Sololauf mehr, sondern ein Resonanzraum. Erfolg entsteht dort, wo Führungskräfte bereit sind, die Kontrolle zu teilen, Verantwortung zu vernetzen und Vielfalt als Stärke zu begreifen.

Die Diskussion: Zwischen Rationalität und Vertrauen

In der Diskussionsrunde, die sich an meinen Vortrag beim Nachhaltigkeitsdialog von Mercedes-Benz anschloss, wurde deutlich, wie ambivalent das Thema wirkt:
Führungskräfte wissen, dass sie mehr Vertrauen und Selbstorganisation zulassen müssen – und doch ist die Angst vor Kontrollverlust spürbar.

Ein Teilnehmer formulierte es treffend: „Wir sind groß geworden mit dem Anspruch, alles im Griff zu haben. Heute müssen wir lernen, dass Einfluss oft dort entsteht, wo wir gerade nicht kontrollieren.“
Diese Erkenntnis sorgte für Nachdenklichkeit, aber auch eine spürbare Aufbruchsstimmung. Denn Ambiguitätstoleranz heißt nicht, alles laufen zu lassen.
Sie bedeutet, den Rahmen zu halten, auch wenn der Weg sich ständig verändert.
Sie verlangt Führungspersönlichkeiten, die zugleich Orientierung und Offenheit verkörpern – eine Haltung, die in Zeiten multipler Krisen zur eigentlichen Führungsstärke wird.

Mein Fazit vom Nachhaltigkeitsdialog

Der Tag bei Mercedes-Benz hat gezeigt: Nachhaltigkeit, Transformation und Führung sind keine getrennten Welten. Sie folgen denselben Prinzipien – Komplexität, Vernetzung, Unschärfe. Führung wird in Zukunft weniger darin bestehen, Antworten zu geben, sondern darin, gute Fragen zu stellen, Spannungen auszuhalten und gemeinsam tragfähige Lösungen zu entwickeln.
Ambiguitätstoleranz ist dabei keine Modeerscheinung. Sie ist die Schlüsselkompetenz für Führung im digitalen und nachhaltigen Zeitalter – und sie lässt sich lernen, trainieren, weitergeben. Wer sie beherrscht, wird die Zukunft nicht nur überstehen, sondern gestalten.